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Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

INTERREGIONALES ENZYKLOPÄDISCHES PSYCHOANALYTISCHES WÖRTERBUCH DER IPV

INHALTSVERZEICHNIS

AMAE ........................................................................................................................... 2 CONTAINMENT: CONTAINER-CONTAINED.................................................. 16 ENACTMENT ........................................................................................................... 31 GEGENÜBERTRAGUNG ....................................................................................... 54 ICH-PSYCHOLOGIE............................................................................................... 90 INTERSUBJEKTIVITÄT ...................................................................................... 195 KONFLIKT.............................................................................................................. 285 NACHTRÄGLICHKEIT........................................................................................ 346 OBJEKTBEZIEHUNGSTHEORIEN................................................................... 386 SELBST .................................................................................................................... 484 SETTING, DAS PSYCHOANALYTISCHE ........................................................ 573 DIE THEORIE DER KOMMUNIKATION VON DAVID LIBERMAN.......... 598 ÜBERTRAGUNG.................................................................................................... 612 DAS UNBEWUSSTE .............................................................................................. 674

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AMAE Tri-regionaler Eintrag Interregionale Berater: Takayuki Kinugasa (Nordamerika),

Elias M. da Rocha Barros (Lateinamerika) und Arne Jemstedt (Europa) Interregionaler Koordinierender Co-Chair: Eva D. Papiasvili (Nordamerika)

I. EINLEITENDE DEFINITION

Amae ist ein Wort aus der japanischen Umgangssprache. Es ist die Substantivform des Verbs amaeru . Beide Wortformen leiten sich von dem Adjektiv amai her, welches “süß im Geschmack” bedeutet. Amaeru ist eine Kombination aus dem Verb eru , das mit “bekommen” oder “erhalten” zu übersetzen ist, und amai. Die ursprüngliche wörtliche Bedeutung von amaeru wäre also: “Süßes bekommen”. Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet amaeru ein kindliches Anlehnungsverhalten, das um Nachsicht und um die Erfüllung einer Bitte oder eines Wunsches wirbt, sei es des Wunsches nach Zuneigung, körperlicher Nähe oder emotionaler wie auch praktischer Unterstützung. Das Verhalten bringt das Bedürfnis, sich anzulehnen, zum Ausdruck, und setzt eine gewisse Vertrautheit oder intime Nähe voraus. Typisch ist das Verhalten eines Kleinkindes oder Kindes, das an eine Mutterfigur oder Betreuerin appelliert, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Verhaltensweisen, die mit den Worten amae und amaeru bezeichnet werden, lassen sich in japanischen zwischenmenschlichen Interaktionen ebenso gut außerhalb der Familie und nicht nur bei Kindern beobachten, sondern auch in engen persönlichen Freundschaften zwischen Erwachsenen, in der Intimität einer Paarbeziehung, in der erweiterten Familie oder in kohärenten Kleingruppen wie Schulklassen oder Sportmannschaften. Man sieht sie auch in Beziehungen, in denen es ein Macht- oder Statusgefälle gibt, zum Beispiel zwischen Lehrer und Schüler, Chef und Untergebenen oder erfahrenen und unerfahrenen Arbeitskollegen. Je nach interpersonalen Umständen wird die amae- Psychologie einerseits weithin als Signal der Stärke und Tragfähigkeit einer Beziehung anerkannt; andererseits kann sie auch negativ wahrgenommen werden, nämlich als Zeichen der Unreife, Zügellosigkeit, Ansprüchlichkeit oder als Ausdruck eines Mangels an sozialem Bewusstsein und gesundem Menschenverstand. Salman Akhtar (2009) definiert amae in seinem Comprehensive Dictionary of Psychoanalysis als einen japanischen Begriff, “der eine intermittierende, repetitive, kulturell geprägte Interaktion bezeichnet, in der die üblichen Regeln der Schicklichkeit und Höflichkeit vorübergehend außer Kraft gesetzt sind, so dass die

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Beteiligten liebevolle Ich-Unterstützung empfangen und gewähren können” (S. 12). Diese Definition stützt sich auf Takeo Dois (1973) Begriffsdefinition, die Daniel Freeman (1998) in der ich-psychologischen Terminologie im Sinne einer “interaktiven gemeinsamen Regression im Dienste des Ichs, die das progressive intrapsychische Wachstum und die Entwicklung beider Beteiligter fördert” (S. 47), erweitert hat. Die Herausgeber des Japanese Dictionary of Psychoanalysis (Okonogi, Kitayama, Ushijima et al., 2002) rekurrieren ebenfalls auf Dois Definition und verweisen auf die Kompliziertheiten der in den dynamischen Grundlagen von amae enthaltenen, in der präverbalen Phase gründenden emotionalen Abhängigkeit. Kein bekanntes Wörterbuch oder Glossar, das in Europa und Lateinamerika in einer der IPV-Sprachen publiziert wurde, führt amae als Lemma an. Bislang ist der Begriff in der breiteren psychoanalytischen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Diesem Eintrag liegen die oben genannten Quellen zugrunde.

II. ENTWICKLUNG DES KONZEPTS

Zur Beschreibung eines psychologischen Phänomens wurde der Begriff amae von Takeo Doi 1971 in seinem – auf Japanisch verfassten - Buch The Anatomy of Dependence eingeführt, das 1973 ins Englische übersetzt wurde. Doi beschrieb darin eine Vielfalt von amae- Verhaltensweisen in japanischen sozialen und klinischen Interaktionen und vertrat die Ansicht, dass das amae -Konzept für das Verständnis der japanischen Psychologie von wesentlicher Bedeutung sei. Er übersetzte amae mit “dependence or emotional dependence” - “Abhängigkeit oder emotionale Abhängigkeit” – ins Englische und definierte amaeru wie folgt: “to depend or presume upon another’s benevolence” - “vom Wohlwollen eines anderen Menschen abhängig sein oder es in Anspruch nehmen” (Doi, 1973). Doi versteht amae als ein Signal der “Hilflosigkeit und des Bedürfnisses, geliebt zu werden”, und setzt dies mit Abhängigkeitsbedürfnissen gleich. Ihren Prototyp sieht er in der Beziehung des Kleinkindes zur Mutter, wohlgemerkt: nicht des Neugeborenen, sondern des Kleinkindes, das bereits gelernt hat, dass die Mutter unabhängig von ihm selbst existiert (Doi, 1973). In einer späteren Publikation erweitert Doi (1989) die dynamische Formulierung von amae wie folgt: “Ein weiterer wichtiger Aspekt des Begriffs amae ist folgende Besonderheit: Er verweist zwar in erster Linie auf einen zufriedenen psychischen Zustand, in dem das Liebesbedürfnis durch die Liebe eines anderen Menschen befriedigt wird, kann aber auch dieses Liebesbedürfnis an sich bezeichnen, weil man nicht immer auf die Liebe des Anderen zählen kann, so sehr man es sich auch wünscht. Das bedeutet, dass der Zustand der Frustration von amae , für deren verschiedene Phasen es eine ganze Reihe japanischer Wörter gibt, ebenfalls als

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amae bezeichnet werden kann und tatsächlich häufig so genannt wird, weil amae offensichtlich schärfer wahrgenommen wird, wenn das Bedürfnis nicht befriedigt wird, sondern die Gratifikation versagt bleibt. Mit dieser Verwendung des Begriffs hängt zusammen, dass wir von zwei Formen von amae sprechen können, nämlich einer primitiven, die sich eines bereitwilligen Empfängers sicher ist, und einer komplizierten, die sich der Existenz eines solchen Empfängers nicht sicher ist. Die erste Form ist kindlich, unschuldig und ruhig; die zweite ist kindisch, mutwillig und fordernd, einfach ausgedrückt: gute und böse amae […].” (Doi, 1989, S. 349) Dois These, dass amae , emotionale Abhängigkeit, ein exklusives, wesentliches Element der Psychologie der Japaner sei, traf sowohl auf begeisterte Akzeptanz wie auch auf Skepsis und Kritik. Sie spornte eine ganze Reihe von Debatten an, zum Beispiel: Inwiefern sollte man die Psychologie der Japaner als etwas Spezifisches betrachten? Behauptet Doi, dass der japanische Charakter von Grund auf abhängig sei? In welcher Beziehung steht das amae- Konzept zu ähnlichen psychologischen und psychoanalytischen Theorien und Methoden? Wie ist amae im Verständnis der allgemeinen menschlichen Entwicklung einzuordnen? Inwiefern leistet das amae- Konzept einen Beitrag zu spezifischen neuen Entwicklung in der psychoanalytischen Theorie und Praxis?

III. SOZIOKULTURELLE PERSPEKTIVEN

Erik Erikson (1950) erläuterte, auf welche Weise verschiedenartige und je spezifische gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse im Prozess der psychischen Entwicklung des Menschen zur Entstehung unterschiedlicher Anpassungsmodi beitragen. Er arbeitete Freuds biologisch basierte psychosexuelle Entwicklungsstufen weiter aus und bezog auch Phasen der psychosozialen Entwicklung des Menschen mit ein, die über die Bewältigung des ödipalen Konflikts hinausreichen und sich über den gesamten Lebenszyklus erstrecken. Die von Doi beschriebene amae- Psychologie und ihre Bedeutung für das Verständnis des spezifischen Charakters der Psychologie der Japaner kann auch in diesem Kontext untersucht werden. Viele Sozialwissenschaftler und andere Forscher, die kulturübergreifend arbeiten, haben auf die Besonderheit der japanischen Gesellschaft und der psychischen Anpassungen der Japaner aufmerksam gemacht. Dois amae- Konzept ergänzte diesen Diskurs um eine weitere Dimension. Zu den wichtigsten Eigenschaften, die als spezifisch für die japanische Gesellschaft und Kultur gelten, zählen

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1. hierarchisch organisierte soziale Beziehungen; 2. Gruppenorientierung vor individueller Abgrenzung; 3. Trennung zwischen privaten und öffentlichen, inneren und äußeren Beziehungen in Gedanken, Gefühlen und Verhalten; 4. Betonung der (durch äußere Verurteilung erzeugten) Schamgefühle sowie der Schuldgefühle (als Ausdruck innerer Verurteilung) 5. Konfliktvermeidung und hohe Wertschätzung der Harmonie; 6. auf einen nachsichtigen, responsiven und permissiven Erziehungsstil im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit folgen zunehmend strenge Zuschreibungen sozialer Rollen und Verhaltenskontrollen in den späteren Jahren. Die allgemein beobachtete Omnipräsenz vertikaler hierarchischer Strukturen in den meisten japanischen Beziehungen wird von Kulturanthropologen wie Ruth Benedict (1946) oder dem Historiker Edwin O. Reischauer (1977) bestätigt. Detaillierte Forschungen legte Chie Nakane (1970) vor, der außerhalb Japans bekannteste japanische Anthropologe. Die mit der hierarchischen Struktur zusammenhängenden und verflochtenen oben aufgeführten Eigenschaften sind das kulturelle und psychologische Echo eines 400-jährigen Feudalsystems mit starrer politischer und sozio-ökonomischer Schichtenbildung. Modernisierende westliche Einflüsse machten sich erstmals Ende des 19. Jahrhunderts bemerkbar und breiteten sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Kontext der neuen demokratischen Regierungsinstitutionen und zahlreicher gesellschaftlicher Veränderungen im politischen, ökonomischen und technologischen öffentlichen Leben immer schneller aus. Gleichwohl überdauern auch im heutigen japanischen Leben traditionelle kulturelle Werte und Besonderheiten als psychologische Unterströmungen. Reischauer (1977) hebt die Fähigkeit der Japaner hervor, sich Veränderungen anzupassen, und nimmt viele menschliche Gemeinsamkeiten zwischen Osten und Westen wahr. Dean C. Barnlund (1975) beschreibt amae in seinem kulturanalytischen Vergleich zwischen dem US-amerikanischen und dem japanischen Festhalten an gesellschaftlich vermittelten, zentralen und normativen kulturellen Werten als eine Repräsentation des “kulturellen Unbewussten”. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist eine Erziehungspraxis, die ständige körperliche Nähe, Nachsicht, Responsivität, sensible, empathische mütterliche Fürsorge und die Verfügbarkeit weiterer Bezugspersonen gewährleistet, für das Verständnis von amae entscheidend. Weil der Raum, der den Japanern als Inselbewohnern zur Verfügung steht, begrenzt ist, sind die Nähe zu anderen Menschen und die Notwendigkeit, Seite an Seite zu leben, eine Grundvoraussetzung des japanischen Lebens. Kinder lernen nicht nur ihre Großfamilie, sondern auch ihre

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Nachbarn und die umgebende Gemeinde schon sehr früh kennen. Jeder Erwachsene in der näheren Umgebung wird oji-san , Onkel, bzw. oba-san , Tante, genannt. Ältere Kinder werden als onei-san , ältere Schwester, oder onii-san , älterer Bruder, angesprochen. Sie alle sind potentielle Bezugspersonen im Leben eines Kindes und vermitteln ihm durch die Zugehörigkeit zur Gruppe ein Gefühl der Sicherheit. Alan Roland (1991) beschreibt einen krassen Gegensatz zwischen dem Konzept des “familiären Selbst”, das seiner Ansicht nach in der japanischen Psyche dominiert, die aus den subtilen emotionalen hierarchischen Beziehungen der Familie und Gruppe hervorgeht, und dem “individualisierten Selbst” der westlichen Welt. Reischauer (1977) weist allerdings auch darauf hin, dass die Japaner weniger stark an die Familie an sich als vielmehr an die sie umgebenden Gruppen gebunden sind. Dies könnte auf ein “Gruppenselbst” in dem Sinn schließen lassen, dass Kinder schon sehr früh ihren Platz in einer Gruppe identifizieren und internalisieren. Eine traditionelle rituelle Feier, Hichi-Go-San , illustriert diese Dynamik. Kinder im Alter zwischen zwei bis drei, vier bis fünf und sechs bis sieben Jahren werden, in traditionelle Gewänder gekleidet, zum Schrein ihrer Gemeinde begleitet. Dort werden sie im Rahmen einer kollektiven Feier, die den Abschluss ihrer Kindheitsphase markiert, mit Süßigkeiten und Spielsachen beschenkt.

IV. PSYCHOANALYTISCHE IMPLIKATIONEN DES AMAE-KONZEPTES

Wie schon erwähnt, löste Dois ursprüngliche Definition von amae als „Anlehnung“, “Abhängigkeitsbedürfnis”, “Hilflosigkeit” und “Wunsch, geliebt zu werden”, eine Reihe theoretischer und klinischer Debatten aus, wenngleich sie die für japanische Menschen und klinische Interaktionen spezifische amae- Psychologie in vielerlei Hinsicht zutreffend und einsichtig erfasste (Doi, 1973). In der Entwicklung geht amae dem Spracherwerb des Kindes voraus. So sagen zum Beispiel Japaner von einem Kleinkind, das sein Verlangen nach der Mutter aktiv äußert: “Das Kind ist schon sehr stark emotional abhängig ( amaeru ).” Dieses fortgesetzte Verlangen nach der Nähe der Mutter wird als emotionale Konfiguration bewusst und unbewusst ins Zentrum des emotionalen Lebens positioniert. Zu vergleichen ist dies mit Freuds Erläuterungen zur psychoanalytischen Verwendung des Begriffs “Sexualität”: “Wir gebrauchen das Wort Sexualität in demselben umfassenden Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort ‘lieben’” (Freud, 1910, S. 120). In diesem Sinn verstehen die Japaner den Ödipuskomplex, in dem sich Liebe und Sexualität miteinander verbinden, obgleich es für das deutsche Wort “lieben” oder das englische “to love” im Japanischen keine Entsprechung gibt. Analog dazu könnte man sagen, dass amae den Hauptstrom unseres emotionalen Lebens vor dem Ödipuskomplex bildet, und zwar auch außerhalb Japans in einer Welt, der das Wort amae unbekannt ist. Wie Liebe ist

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amae ein sprachlicher Begriff, der aber anders als “Liebe” die Sexualität nicht mit abdeckt. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Elemente von amae in verschiedenen, von Ambivalenz geprägten psychischen Zuständen enthalten sind. Falls es sich tatsächlich so verhält, könnte es hilfreich sein, amae mit anderen psychoanalytischen Konzepten zu vergleichen. Freud (1912) beschrieb zwei Liebesströmungen: “Von diesen beiden Strömungen ist die zärtliche die ältere. Sie stammt aus den frühesten Kinderjahren, hat sich auf Grund der Interessen des Selbsterhaltungstriebes gebildet und richtet sich auf die Personen der Familie und die Vollzieher der Kinderpflege” (S. 79f.). Diese Definition entspricht den der amae- Psychologie zugrundeliegenden Elementen des Selbsterhaltungstriebes. Später ging die aus dem Selbsterhaltungstrieb hervorgehende zärtliche Strömung ins Freuds Narzissmus-Konzept ein (Freud, 1914). Er schrieb, dass der primäre Narzissmus zwar nicht durch unmittelbare Beobachtung bestätigt werden könne, doch wenn “man die Einstellung zärtlicher Eltern gegen ihre Kinder ins Auge fasst, muss man sie als Wiederaufleben und Reproduktion des eigenen, längst aufgegebenen Narzissmus erkennen” (Freud, 1914, S. 157). Während Freud (1930) sein Konzept des Selbsterhaltungstriebs später verwarf und zu dem Schluss gelangte, dass die zärtliche Zuneigung eine Manifestation von Eros (Sexualtrieb) sei, dessen ursprüngliches Ziel verdrängt werde, postulierte Doi, dass amae dem von Freud in seiner frühen Triebtheorie beschriebenen Selbsterhaltungstrieb entspreche. In diesem Sinn definierte er amae als ein triebhaftes Abhängigkeitsbedürfnis. Darüber hinaus verstand Freud (1921) die Identifizierung als den frühesten Ausdruck einer emotionalen Bindung an einen anderen Menschen, die von Beginn an ambivalent ist. Dieser Definition gemäß könnte die Identifizierung den identifikatorischen und ambivalenten Aspekten von amae entsprechen. Als Doi (1989) das Konzept innerhalb der objektbeziehungstheoretischen Matrix weiterentwickelte, betonte er abermals, dass amae von Beginn an auf ein Objekt bezogen ist (S. 350). Dies ist zwar mit Freuds Konzept des primären Narzissmus nicht vollständig vereinbar, entspricht aber „in hohem Maß jedem psychischen Zustand, den man als narzisstisch bezeichnen würde“ (S. 350). In diesem Sinn verstanden, liegen die narzisstischen Eigenschaften von amae der „pathologisch komplizierten“ zugrunde, die Ausdruck in kindischem, mutwilligem und forderndem Verhalten findet. „In gleicher Weise“, so Doi (1989), „ist ein neues Konzept des Selbstobjekts, das Kohut als ‚archaisch‘ und ‚mit narzisstischer Libido besetzt‘ definiert hat (vgl. Kohut, 1976 [1971], S. 19), wesentlich einfacher im Licht der amae- Psychologie zu verstehen, weil die ‚narzisstische Libido‘ nichts anderes ist als pathologisch komplizierte amae “ (Doi, 1989, S. 351). Dementsprechend verstehen japanische Analytiker Kohuts „Selbstobjektbedürfnisse“ als Beinahe-Entsprechung des amae- Konzepts. Auch Michael Balints Beobachtung, „dass in der Endphase der Behandlung die Patienten beginnen, längst vergessene infantile Triebwünsche zu äußern und deren Befriedigung von der Umwelt zu fordern” (Balint 1935, S. 39), ist hier möglicherweise relevant, den“primitive amae manifestiert sich erst, nachdem

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narzisstische Abwehrmechanismus analysiert und durchgearbeitet wurden” (Doi, 1989, S. 350). Balints Überlegungen zur “passive Objektliebe” und zur primären Liebe (Balint 1988 [1935]), die er ausgehend von Freud und Ferenczi entwickelte, stehen dem amae -Konzept theoretisch am nächsten. Balint weist darauf hin, dass die indo- europäischen Sprachen nicht eindeutig zwischen den zwei Formen der Objektliebe, d.h. der aktiven und der passiven, unterscheiden (ebd., S. 66). Während das Ziel immer in erster Linie eines passives ist (geliebt zu werden), wird sich das Kind doch, sofern seine Bezugspersonen es hinreichend lieben, anerkennen und seine Frustrationen mildern, zu einer aktiveren Haltung weiterentwickeln und “Liebe schenken”, um selbst Liebe zu empfangen (Konfiguration der “aktiven Objektliebe”). Klinisch formuliert, besteht eine Verbindung zwischen primitiver amae und Balints Begriff der “gutartigen Regression” sowie zwischen pathologisch komplizierter amae und der von ihm beschriebenen “malignen Regression”. Obwohl Fairbairn (1952) die Abhängigkeit in der frühen Entwicklung generell anerkannte, verzichtet sein objektbeziehungstheoretisches System auf das Konzept der Abhängigkeitsbedürfnisse. Kleins Theorien des Neides ( higami = Minderwertigkeitskomplex, Gelbsucht) und der projektiven Identifizierung (Klein 2000 [1957]) entsprechen einer verzerrten amae . Viele japanische Analytiker sind der Ansicht, Bion (1961) habe Dois amae- Konzept im Kontext der Gruppendynamik vorhergesehen, als er die These formulierte, dass in jedem der emotionalen Zustände, die mit den drei Gruppengrundannahmen – Abhängigkeit, Kampf-Flucht und Paarbildung - zusammenhängen, ein Gefühl der Sicherheit existiere. Auch sein “Container-Contained”-Konzept und Winnicotts “Holding” sowie Hartmanns “Passung” und Sterns “Interaffektivität” weisen grundlegende Ähnlichkeit mit der amae- Psychologie auf, wiewohl sie die prä-adaptierte Abhängigkeit des Säuglings von der Mutter, die für die intersubjektive Übertragungs-Gegenübertragungsmatrix im psychoanalytischen Prozess klinisch relevant ist, von unterschiedlicher Warte aus betrachten.

V. WEITERE PSYCHOANALYTISCHE ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE PERSPEKTIVEN

Unter einem dynamischen entwicklungspsychologischen Blickwinkel ist hervorzuheben, dass Doi (1971) nicht die Mutterbeziehung des Neugeborenen als Ursprung von amae betrachtet, sondern die Mutterbeziehung des Kleinkindes, das sich seiner getrennten Existenz bereits bewusst ist und in der Mutter die unverzichtbare Befriedigungsquelle erkennt. Diese Konzeptualisierung legt die Vermutung nahe, dass amae in einer Entwicklungsphase auftaucht, in der sich das Ich

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schon differenziert und Kognition, Urteilsfähigkeit und Identifizierung erworben hat. Auch die Objektkonstanz ist bereits entwickelt. Die von Mahler et al. (1975) beschriebene symbiotische Entwicklungsphase und die Subphase des Übens wurden erfolgreich bewältigt und von der Phase der Separation-Individuation abgelöst. Die Mutter existiert als eine vom Kind getrennte Person; ihre von Wohlwollen und Nachsicht geprägte Freude am Kind wurde von diesem internalisiert. Unter diesen Umständen beginnt auch die psychische Struktur des Über-Ichs aufzutauchen. Der heute weit verbreitete japanische Erziehungsstil scheint diese Sichtweise zu bestätigen. Grenzenlose mütterliche Aufmerksamkeit, non-verbale Responsivität sowie körperliche und emotionale Nähe werden dem Kind gewährt, damit es die symbiotische Phase und die Phase der Separation-Individuation erfolgreich durchlaufen kann. Sowohl die Säuglingsforschung (Stern, 1985) als auch die Selbstpsychologie befürworten einen solchen Betreuungsstil, weil er die Entwicklung fördert und einem sicheren Selbstgefühl zuträglich ist. Gemäß Gertrude und Rubin Blancks (1994) schematischer Darstellung des Entwicklungsverlaufs ginge amae aus dem Prozess der Neutralisierung des Aggressionstriebs hervor. Diese Neutralisierung der Aggression unterstützt die aktive Entwicklung von Separation und Individuation. Beginnend mit der Sauberkeitserziehung und der Fähigkeit, die Körperfunktionen sowie die phallisch assertiven individuellen Äußerungen zu kontrollieren, wirkt die Über-Ich- Entwicklung mäßigend auf den Aggressionstrieb ein. Im Gegensatz zu diesem für westliche Gesellschaften typischen Szenarium werden Sauberkeitserziehung und Verhaltensdisziplinierung japanischer Kinder von ständiger liebevoller Aufmerksamkeit und Fürsorge begleitet. Ihnen werden Beispiele vor Augen gehalten, und sie werden ermutigt und an ihre Ausscheidungsbedürfnisse erinnert. Diese Methoden fördern die Identifizierung des Kindes mit seinen Bezugspersonen, indem sie den Aggressionstrieb dämpfen und individuelle Bedürfnisse zugunsten der Anpassung an äußere Erwartungen hintanstellen, das heißt, auf einem anderen Weg zur Über-Ich-Bildung gelangen. Gleichwohl sind die zunehmend komplexen und häufig restriktiven äußeren Regeln, Rollenvorschriften und die Forderung nach Harmonie, Gehorsam usw. kulturelle Werte, die dem Kind ein hohes Maß an Anpassung abverlangen und seine noch schwache Psyche einem erheblichen Stress aussetzen. Beschämung durch äußere Verurteilung und der angedrohte Entzug liebevoller Verbundenheit können eingesetzt werden, um die Erfüllung der Über-Ich- Anforderungen und den Verzicht auf individuelle Bedürfnisbefriedigung zu unterstützen. Im Rahmen dieser konflikthaften Verhandlungen der Über-Ich- und Es- Anforderungen kann das Kind auf die Wiederannäherungsphase regredieren, in der es vorübergehende Beruhigung und Bestätigung in der symbiotischen Nähe zur Mutter sucht, bevor es seinen eigenen, getrennten Weg einschlägt. Sowohl Akhtar (2009) als auch Freeman (1998) erläutern den Aspekt des emotionalen Wiederauftankens, den auch das amae- Konzept enthält. Freemans Beschreibung von amae als

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vorübergehendes, intermittierendes Verlangen und seine Betonung des Nutzens der amae- Interaktion für beide Beteiligte unterstützen diese These. Davon ausgehend, ist zudem anzunehmen, dass amae von dem “abhängigen” Beteiligten auch im Interesse des/der Anderen initiiert werden kann. Der amae- Empfänger kann zum Beispiel bewusst oder unbewusst die Verunsicherung und das Bestätigungsbedürfnis seiner Mutter wahrnehmen, die sich durch das Separationsbedürfnis des Kindes bedroht und zurückgewiesen fühlt; amae kann auch das Bedürfnis eines unsicheren Chefs befriedigen, seine Macht über einen schmeichlerischen Untergebenen zu spüren, oder das Bedürfnis eines alternden Elternteils, auch für ein kompetentes erwachsenes Kind noch wertvoll und wichtig zu sein. Einleuchtend ist aber auch, dass “freundliches” amae- Verhalten mitunter eine provozierende, aggressive Forderung maskieren kann. Diese kommt dann auf angemessen abhängige Weise daher und entspräche Dois (1989) Beschreibung der “negativen amae ”. Dois ursprüngliche Definition von Amae als “Hilflosigkeit und das Bedürfnis, geliebt zu werden”, betonte den Aspekt der Passivität. Diese Dimension ist offenbar von spezieller Komplexität. Ebenso wie Doi (1971, 1973, 1989) versteht auch Balint (1988 [1935], 1968) amae als ein biologisch determiniertes Streben/primäres Bedürfnis und Verlangen nach Liebe. Bethelard und Young-Bruehl (1998) wiederum sehen in Dois amae die – biologisch verankerte und mit der Geburt auftauchende - Erwartung nachsichtiger, duldsamer Liebe, die sie als liebevolle Wertschätzung [“cherishment”] bezeichnen. Nicht anders als zuvor Doi befürworten sie mit Blick auf amae eine Überprüfung des Postulats eines Selbsterhaltungstriebs. Die moderne Säuglingsforschung, die uns gezeigt hat, wie kompetent Babys aktiv interagieren können, verlangt nach gründlicherer Erforschung des auch für die amae - Psychologie relevanten “Passiv-Aktiv-Spektrums”. Im Kontext von amae spiegelt die auf der Verhaltensebene – u.a. von Bowlby (1971) – beobachtete Aktivität ein inneres Erleben wider, das sich als Bindung manifestiert (Doi, 1989). Wir könnten die These vertreten, dass amae - psychoanalytisch gesehen - ein Schichtenkonzept darstellt und ein aktives, trieb-/affektgestütztes Streben, passiv geliebt zu werden und sich anlehnen zu können, beschreibt. Alternativ zu Dois Definition von amae als “Bedürfnis-Trieb” [“desire-drive”] (Doi, 1971) könnte man amae als eine spezifische Form der Abwehr definieren, die in der Psychologie der Japans eine besonders wichtige Rolle spielt, wenngleich sie zweifellos auch anderswo in der östlichen oder westlichen Welt anzutreffen ist. Unter diesem Blickwinkel können wir amae als eine Abwehrmaßnahme des Ichs betrachten, genauer: als einen “Appell um Duldsamkeit und Nachsicht”, der – ganz unabhängig von der jeweiligen Phase im Lebenszyklus – zwischen Über-Ich-Anforderungen und Anforderungen des Es oder individuellen Bedürfnissen vermittelt. Möglicherweise ist diese Form der Ich-Abwehr in einer Gesellschaft notwendig, die absolute Über-Ich- Konformität erwartet. Hierarchische Beziehungsordnungen und Gruppenorientierung verlangen eine strikte Beachtung der Regeln und Rollen und schreiben Verhaltenskontrolle sowie die Geheimhaltung persönlicher Gedanken und Gefühle

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und die Lösung von Konflikten durch Beschämung vor. All dies sind offenbar Möglichkeiten, sich einer in der Feudalgesellschaft wurzelnden Über-Ich-Bildung anzupassen. In Reaktion auf diese strengen oder anspruchsvollen Über-Ich- Erwartungen stützt sich amae auf nonverbale emotionale Kommunikation und empathisches Entgegenkommen, Duldsamkeit und Nachsicht als notwendige, gegen den Aggressionstrieb oder die Angst vor einem potentiellen Objektverlust gerichtete Abwehr. Als vermittelnder Ich-Mechanismus ermöglicht amae dem Individuum ein persönliches Gefühlsleben und gibt ihm Gelegenheiten, individuelle libidinöse wie auch aggressive menschliche Triebe zu äußern. Amae wurzelt in der Identifizierung mit präverbalen Erfahrungen mit einer nachsichtigen Betreuungsperson, die die emotionale Bedürfnisse und Wünsche des Kindes zu erkennen vermag und empathisch reagiert – vielleicht analog zu Winnicotts (1965) Konzept der für die hinreichend gute Mutter charakteristischen “primären Mütterlichkeit”. Im Übrigen könnte es sich bei Winnicotts Unterscheidung zwischen der Umweltmutter, die Ich- Bezogenheit herstellt (Halten, Zärtlichkeit, Empathie) und der Objekt-Mutter, auf die sich die Es-Strebungen/Triebe richten, um eine unter dem objektbeziehungstheoretischen Blickwinkel formulierte Interpretation von Freuds früher Differenzierung zwischen zärtlichen und sinnlichen Liebesströmungen handeln. Amae - und amaeru -Verhaltenskommunikationen können von vielfältigen Abwehrmechanismen – Verdrängung, Regression und partielle Regression, Ungeschehenmachen, Reaktionsbildung – in Dienst genommen und als “gemeinsam gehütetes Geheimnis” oder sogar als Weg zur Sublimierung eingesetzt werden. Auch unter diesem Blickwinkel der Abwehr und Anpassung impliziert amae sowohl entwicklungspsychologisch als auch auf der Beziehungs- und der Übertragungsebene die Wechselseitigkeit: Hartmanns (1975 [1937]) Konzept des “Zusammenpassens” von Mutter und Kind, Winnicotts (1965) Konzept der “haltenden Umwelt” sowie Bions (1962) “Container-Contained-Konzept”, Kohuts (1971) “Selbstobjekt” und Sterns (1985) Interaffektivität sind hier relevant. Amae- Verhaltensweisen können im gesamten Lebenszyklus auftreten, wann immer die Wünsche und Bedürfnisse des Individuums mit den Auflagen des kulturellen Über- Ichs kollidieren.

VI. SCHLUSSBETRACHTUNG

Amae- Verhaltensweisen und -Einstellungen können nicht lediglich als Ausdruck von Abhängigkeits- oder Anlehnungsbedürfnissen verstanden werden. Sie müssen vielmehr innerhalb komplexer kontextueller Permutationen sowohl der Triebe/Wünsche als auch der Abwehrkonfiguration betrachtet werden. Diese

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umfassende Sichtweise ist insbesondere für Übertragungsinteraktionen relevant. Das Auftreten von amae in der klinischen Dyade kann die positive Übertragung eines wachsenden Vertrauens zum Behandler und zunehmender Aufrichtigkeit zu erkennen geben und das Arbeitsbündnis stärken. Doi (1989) nimmt sogar an, dass ungeachtet des bewussten Motivs, mit dem sich der Patient in psychoanalytische Behandlung begibt, das zugrundeliegende unbewusste Motiv die amae- Psychologie ist, die irgendwann im Laufe der Zeit zum Dreh- und Angelpunkt der Übertragung wird. Dennoch müssen Kliniker sich des hierarchischen Charakters der Übertragung bewusst sein, der jedes psychoanalytische Setting und vor allem die japanische klinische Situation prägt. Sie müssen nonverbale oder indirekte Äußerungen „positiver“ wie auch „negativer“ amae sensibel wahrnehmen, wenn diese als primäre Bedürfnisse, Triebstrebungen, Abwehrprozesse oder als komplexe entwicklungspsychologische dynamische Konfiguration konzeptualisiert werden. In ähnlicher Weise lässt sich die Gruppenorientierung japanischer Patienten nicht lediglich als ein Fehlen von Grenzen und unzulängliche Individuation verstehen, wie es in der westlichen Kultur vereinfachend gelegentlich geschieht. Obwohl wir die Formulierung des amae- Konzepts dem spezifischen japanischen Kontext verdanken, können wir amae doch auch in unterschiedlicher Ausprägung in anderen Kulturen wahrnehmen. Innerhalb eines gruppenpsychologischen Kontexts steht es in einem komplexen Zusammenhang mit dem Bedürfnis eines getrennten Individuums, in einem bestimmten Gruppensetting zu leben und ihm anzugehören. Entwicklungspsychologisch und klinisch erstreckt sich die innere, interaktive amae- Dynamik über die gesamte Lebensspanne des Individuums (Doi, 1989; Freeman, 1998), auch wenn sich das frühe emotionale Wiederauftanken bei der Mutter, das Containing und das Halten weiterhin in ihr zu erkennen geben. Dois bahnbrechende Beiträge über amae repräsentieren ein regionalspezifisches entwicklungspsychologisches und klinisches japanisches Konzept von globaler Reichweite, welches das theoretische Verständnis und die klinische Sensibilität über geographische Grenzen wie auch über die Grenzen psychoanalytischer Kulturen und individueller Besonderheiten hinweg bereichert.

LITERATUR

Akhtar, S and Kramer, S (1998). The Colors of Childhood: Separation Individuation across Cultural, Ratial and Ethnic Differences. Northvale, NJ: Jason Aronson. Akhtar, S, ed. (2009). Comprehensive Dictionary of Psychoanalysis. London: Karnak.

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Regional Beraterinnen und Beiträgerinnen

Nordamerika: Gemeinsam verfasst von Takayuki Kinugasa, M.D., und den Mitgliedern der Japanischen Psychoanalytischen Gesellschaft ; Nobuko Meaders, LCSW; Linda A. Mayers, PhD; Eva D. Papiasvili, PhD, ABPP

Europa: Durchgesehen von Arne Jemstedt, MD, und den europäischen Beratern/Beraterinnen

Lateinamerika: Durchgesehen von Elias M. da Rocha Barros, Dipl. Psych., und den lateinamerikanischen Beratern/Beraterinnen

Interregionaler koordinierender Co-Chair: Eva D. Papiasvili, PhD, ABPP

Ergänzende englischsprachige Redaktionshilfe: Jessi Suzuki, M.Sc.

Das Interregionale Enzyklopädische Psychoanalytische Wörterbuch der IPV ist lizensiert unter Creative Commons Licence CC-BY-NC-ND. Die Autoren (die IPV und die IPV-Mitglieder, die Beiträge verfassen) behalten ihr Urheberrecht, aber das Material kann von anderen benutzt werden, jedoch nur zu nicht-kommerziellen Zwecken, unter vollständigem Verweis auf die IPV (einschließlich Angabe dieser URL: www.ipa.world.IPA/Enzklopädisches_Psychoanalytisches_Wörterbuch) und in Form wörtlicher Zitate, das heißt nicht in abgewandelter, bearbeiteter oder umarrangierter Form. Die genauen Bestimmungen finden Sie hier.

Übersetzung: Elisabeth Vorspohl

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CONTAINMENT: CONTAINER-CONTAINED Tri-regionaler Eintrag Interregionale Consultants: Louis Brunet (Nordamerika);

Vera Regina Fonseca (Lateinamerika); Dimitris-James Jackson (Europa) Interregionaler Koordinierender Co-Chair: Eva D. Papiasvili (Nordamerika)

I. DEFINITION

Wilfred R. Bion verstand sein Konzept des Container-Contained als Analogie zwischen der Situation des analytischen Paares und der Stillsituation von Mutter und Säugling. Das Konzept beschreibt die Mutter nicht lediglich als Trostspenderin und Nahrungsquelle, sondern auch als aufmerksame Empfängerin der Botschaften, durch die der Säugling Unlust und emotionalen Schmerz signalisiert. Die Mutter lindert den Schmerz des Kindes und verwandelt ihn so, dass er für den Säugling handhabbar wird. Sehr allgemein formuliert, transformiert sie Unlust und Schmerz von O (in der Bedeutung namenloser Angst) in K (knowledge = Wissen), damit “das Undenbare denkbar wird”. Theoriegeschichtlich gesehen, ist das Konzept eine Erweiterung der Theorie der projektiven Identifizierung (siehe den Eintrag PROJEKTIVE IDENTIFIZIERUNG): von der Theorie einer primitiven Phantasie und entsprechenden Abwehr zur Theorie einer archaischen Kommunikationsform als unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung des Denkens. Als relationales Modell des psychischen Geschehens erweitert der Containment-Prozess ein lineares Wechselspiel zwischen Container-Contained durch folgende Schritte: Ein psychischer Zustand (Inhalt) wird von einem Sender an einen Empfänger vermittelt; der Empfänger kann diesen Inhalt in sich aufnehmen – ihn “containen” – und ihn durch eigene psychische Arbeit verändern; daraufhin kann der Sender den veränderten Inhalt mitsamt der Containing-Funktion re-introjizieren. Der entwicklungspsychologische Prototyp dieses Modells ist die Mutter-Baby- Beziehung, doch das Konzept kann auch eine spezielle Art der unbewussten Kommunikation beschreiben, die in dyadischen Beziehungen und in Gruppen sowie im psychoanalytischen Prozess stattfindet. Es erleichtert zudem das Verständnis des intrapsychischen Prozesses, in dem das Individuum seine Emotionen zu containen, umzuwandeln/zu transformieren und in Worte zu fassen versucht. In einer klinischen Situation besitzt das Konzept des Containments eine besondere Bedeutung für das Verständnis der psychoanalytischen Prozesse und der

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Entwicklung des Denkens/Symbolisierens. Behandlungstechnisch bedeutet Containing mehr als nur ein stummes Ertragen des Schreiens oder anderer Schmerz- /Unlustäußerungen des Säuglings/des Patienten. Es bedeutet, dass Schmerz/Unlust nach Möglichkeit identifiziert, transformiert und gedeutet werden. Diese multidimensionale Definition spiegelt die auf den drei Kontinenten jeweils gebrächlichen regionalen Wörterbücher und Enzyklopädien wider, leitet sich aus ihnen her und erweitert sie (Lopez-Corvo 2003; Skelton 2006; Auchincloss und Samberg 2012).

II. URSPÜNGE DES KONZEPTS

Das Konzept lässt sich zurückverfolgen bis in die 1940er Jahre, als Melanie Klein und ihre Schüler Herbert Rosenfeld, Hanna Segal und Wilfred R. Bion in England die Schizophrenie klinisch erforschten. (Der Begriff “Containment” hängt auch mit W. R. Bions Erfahrung als Panzerkommandeur im 2. Weltkrieg zusammen. Im militärischen Kontext bezeichnet er die Strategie, Konflikte auf dem Schlachtfeld einzugrenzen und einzudämmen, um sie besser handhabbar zu machen, auch wenn sie nicht unbedingt zu beheben sind.) In ihrem Beitrag “Bemerkungen zu einigen schizoiden Mechanismen” erläuterte Klein (2000 [1946]) ihre Auffassung, dass die primitive frühe Lebensphase des Säuglings die pathologische Fixierungsstelle der Schizophrenie sei. Sie bezeichnete diese ersten drei Lebensmonate als “paranoid-schizoide” Position. Charakteristisch für diese Position sind Beziehungen zu Partialobjekten, Verfolgungs- und Vernichtungsängste sowie primitive Abwehrmechanismen, z.B. Spaltung, projektive Identifizierung, Verleugnung und Omnipotenz. Rosenfeld (1959, 1969) vertiefte in seinen klinischen Untersuchungen insbesondere das Verständnis der projektiven Identifizierung. Er warf Licht auf den Prozess, der sich in der infantilen, primitiven Welt des Patienten vollzieht: Patienten projizieren die inneren Objekte, Partialobjekte und konflikthaften Anteile ihres Selbst in das Objekt – in die Brust und den Körper der Mutter/des Analytikers -, damit dieses sie handhabbar macht; daraufhin werden sie durch Reintrojektion erneut verinnerlicht und zu einem Teil des Selbst, mit dem der Patient sich identifiziert. Dieser Projektions- und Reintrojektionsprozess wurde zu einem fundamentalen Bestandteil von Bions Erforschung des Container-Contained. Die ersten Hinweise auf die Container-Contained-Theorie tauchten in den 1950er Jahren in Bions Schriften auf, vor allem in seinen Abhandlungen “Die Entwicklung des schizophrenen Denkens” (2013 [1956], “Zur Unterscheidung zwischen psychotischer und nicht-psychotischer Persönlichkeit” (2013 [1957]), “Über

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Halluzination” (2013 [1958]) sowie “Angriffe auf Verbindungen” (2013 [1959]). Unter Verweis auf die Beziehung des Babys zur Brust betont er im Rahmen von Melanie Kleins (2000 [1946]) Theorie der projektiven Identifizierung, welch große Bedeutung der wechselseitigen Anpassung zwischen der Mutter/ihrer Brust und dem Baby dabei zukommt, die Desintegrations- und Todesangst des Neugeborenen zu bewältigen. Die befriedigende Präsenz der containenden Brust ist für die Bewältigung der Emotionen und für ihre Modifizierung ausschlaggebend und bahnt dem emotionalen Lernen den Weg. Auf diese Weise entwickeln sich Bions Formulierungen des Konzepts der projektiven Identifizierung als primitive Ich- Abwehr zur Beschreibung einer normativen entwicklungspsychologischen, realistien projektiven Identifizierung, die der Container-Contained-Beziehung inhärent ist.

III. CONTAINER-CONTAINED (CONTAINMENT): BIONS AUSARBEITUNG DES KONZEPTS

In seinem 1959 veröffentlichten Beitrag “Attacks on Linking” beschreibt Bion (2013 [1959]) die Erfahrung, die er mit einem psychotischen Patienten machte, der Anteile der eigenen Persönlichkeit ausschied und via projektive Identifizierung in den Analytiker verlegte, wo sie – unter dem Blickwinkel des Patienten gesehen – so lange aufbewahrt wurden, dass die Psyche des Analytikers sie modifizieren konnte. Danach konnte der Patient sie gefahrlos reintrojizieren. Bion schildert eine Situation, in welcher der Patient das Gefühl bekam, dass der Analytiker seine Projektion allzu rasch wieder externalisiert hatte, so dass die Emotionen nicht modifiziert worden waren. Er reagierte darauf mit zunehmend verzweifelten und gewaltsamen Versuchen, sie erneut in den Analytiker zu projizieren. Bion bringt diesen klinischen Prozess mit der Erfahrung in Verbindung, die der Patient mit seiner Muttter gemacht hatte. Diese hatte die Projektionen des Säuglings als unerträglich empfunden und die projizierten Ängste deshalb nicht in sich containen können. Dazu Bion (2013 [1959]): “Eine verständnisvolle Mutter ist in der Lage, das Gefühl der Furcht, mit dem dieses Baby mit Hilfe projektiver Identifizierung fertigzuwerden versucht, selbst zu erleben und dennoch eine ausgeglichene Haltung zu bewahren” (S. 117). Bion entwickelte diese Überlegungen weiter und stellte sie 1962 in seinem Buch Learning from Experience ( Lernen aus Erfahrung ; 1990 [1962]) und in der Abhandlung “A theory of thinking” (“Eine Theorie des Denkens”; 2013 [1962b]) vor. Er bezeichnete die rezeptive psychische Haltung, in der die Mutter die projizierte Panik des Säuglings in sich aufnehmen und containen kann, als Reverie . Indem er das Konzept der projektiven Identifizierung um das der mütterlichen Reverie ergänzte, trug er der Beeinflussung intrapsychischer Entwicklungen durch die Umwelt, durch primäre Beziehungen, Rechnung. Die Reverie ist ein empfänglicher psychischer

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Zustand, in dem die Mutter die Projektionen des Kindes unbewusst identifiziert und darauf reagiert. Aus ihrer Reverie geht ein neues Verständnis dessen, was das Kind mitzuteilen versucht, hervor. Die Mutter transformiert die von Bion so genannten Beta-Elemente in Alpha-Elemente, die dem Kind dann zurückgegeben werden können. Dies ist die erste Definition des Container-Contained-Modells. Die einzelnen Schritte des Prozesses sehen wie folgt aus: Zuerst nimmt die Mutter in einem Zustand der Reverie jene unerträglichen Aspekte des Selbst, der Objekte, der Affekte und unverarbeiteten Sinneserfahrungen (Beta-Elemente) in sich auf, die das Baby in seiner Phantasie in sie projiziert hat. Zweitens muss sie die Auswirkungen dieser Projektionen auf ihre eigene Psyche und ihren Körper so lange ertragen, wie es notwendig ist, um sie zu be-denken und zu verstehen. Diesen Prozess bezeichnet Bion als Transformation . Nachdem die Mutter das Erleben des Babys in ihrer eigenen Psyche transformiert hat, muss sie es dem Kind nach und nach in entgifteter, verdaulicher Form (in Situationen, in denen das Baby davon profitieren kann) zurückgeben. Dies erfolgt durch ihre Haltung und die Art und Weise, wie sie das Baby behandelt und mit ihm umgeht. In der Analyse bezeichnet Bion diesen letzten Abschnitt des Prozesses als Publikation , gleichbedeutend mit dem, was wir gewöhnlich als Deutung bezeichnen. Die Fähigkeit zu “containen” setzt voraus, dass die Mutter über Grenzen und über genügend inneren Raum verfügt, um ihre eigenen Ängste sowie all die Verunsicherungen, die sie in Bezug auf das Baby empfindet, zuzulassen und auszuhalten, Schmerz und Unlust zu ertragen, nachzudenken, nachzusinnen und ihre Gedanken in einer für das Kind bedeutungshaltigen Weise zu vermitteln. Eine utter, die getrennt, intakt, empfänglich, zur Reverie fähig ist und in angemessenem Rahmen zu geben vermag, kann vom Kind als “containendes” Objekt introjiziert werden, mit dem es sich nach und nach identifizieren wird. Dadurch weitet sich sein mentaler Raum, es erwirbt die Fähigkeit, Bedeutung zu erzeugen und selbständig zu denken. Ebendies bezeichnete Bion als Alpha-Funktion . In seinem 1963 veröffentlichten Buch Elements of Psychoanalysis ( Elemente der Psychoanalyse ; 1992 [1963]) untersucht Bion die dynamische Beziehung zwischen dem Container und seinem Inhalt als erstes Element der Psychoanalyse und benutzt dafür nun die Zeichen ♀ bzw. ♂. ♂, das Containte (Contained), ist von penetrierendem Charakter, während ♀, der Container, rezeptiv und empfänglich ist. In diesem Kontext dienen ♀ und ♂ nicht als Geschlechtersymbole; sie besitzen keine spezifische geschlechtliche Konnotation, sondern stehen für Variablen oder Unbekannte: Die Funktionen von ♀ und ♂ kommen in sämtlichen Beziehungen unabhängig vom Geschlecht zum Tragen. ♂ dringt in ♀, den Container, ein, der es empfängt und mit ihm interagiert, wodurch etwas Neues geschaffen wird. Die Verwendung der Symbole ♂ und ♀ wirft Licht auf den biologischen Charakter der Psyche und bezieht auch Freuds und Kleins Auffassungen der Sexualität und der ödipalen Konfiguration mit ein. In seinen späteren Schriften betonte Bion die Wechselseitigkeit der beiden Teile sowie ihr Wachstums- und Austauschpotential. Die Paradoxie der dynamischen Container-Contained-Beziehung ist ihre Reziprozität: Etwas, das containt, und etwas anderes, das containt wird, erfüllen zugleich die

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Funktion, sich gegenseitig zu containen und containen zu lassen. Auf die Entwicklung bezogen heißt dies, dass die Brust als Container für die Ängste des Babys auch das Gegenteil sein kann: Das Baby wird dann zum Container für Aspekte der mütterlichen Persönlichkeit. Später wird diese Reziprozität im klinischen Kontext besonders hervorgehoben: „Den entscheidenden Anhaltspunkt liefert die Beobachtung der Fluktuationen, die den Analytiker in einem Moment zum ♀ und den Analysanden zum ♂ machen und die Rollen im nächsten Augenblick umkehren“ (Bion 2006 [1970], S. 125). Durchgängig betont Bion, dass „containen“ eine Aktivität und einen Prozess bezeichnet, die zur Bildung von Gedanken und zu deren Transformation in Worte führen; dies ist das Gegenteil einer trivialisierten, verengten Verwendung von „Containing und Receiving“ als lediglich passive Aufnahmebereitschaft und Empfänglichkeit. In seiner ganzen Komplexität und Facettenvielfalt legte Bion das Konzept der Transformationsprozesse 1965 in seinem Buch Transformations: Change from Learning to Growth ( Transformationen ; Bion 1997 [1965]) dar. Hier führte er das metatheoretische Konzept „O“ ein, das den Anfang, aber potentiell auch den Endpunkt des multidirektionalen Transformationsprozesses beschreibt. Das Konzept „O“ umfasst die undenk- und unsagbare „namenlose Angst“, die „Beta-Elemente“ und die „Dinge an sich“, aber auch die „letzte Realität“, „Verehrung“, „Ehrfurcht“ (Bion 1997 [1965]; Grotstein 2011a, S. 506). Weil das Container-Contained-Modell Teil von Bions wissenschaftlichem Deduktionssystem, der Theorie des Gedankens und des Denkens (Bion 1990 [1962a], 2013 [1962b], 1992 [1963], 1997 [1965], 2006 [1979]) ist, muss es in diesen Kontext eingeordnet werden. Dieser allgemeinen Theorie zufolge haben „Gedanken“ und der „Denkapparat“ unterschiedliche Ursprünge; zudem existieren Gedanken unabhängig von einem Denkapparat: „Gedanken“ werden nicht vom Denkapparat hervorgebracht. Für beide ist die Container-Contained-Beziehung grundlegend, die man folglich als den Embryo des psychischen Lebens betrachten könnte. Gemäß dieser Theorie ist die Entstehung eines „Gedankens“ ein Prozess, in dem die Container-Contained-Beziehung den ersten Schritt darstellt. Damit ein psychischer Inhalt (Emotion, Sinneswahrnehmung) psychische Qualität erlangen kann (repräsentiert oder gedacht werden kann), ist die Existenz des Containers, der diesen Inhalt in sich aufnehmen kann, unabdingbar. Das prototypische Objekt dieser Funktion („Container“, ♀) ist die Brust der Mutter, eine angeborene Präkonzeption, die ihrer Realisierung harrt. Wenn sich sensorische und emotionale Stimuli („Inhalte“) mit diesem adäquaten „Container“ paaren, werden sie in ein „Contained“ (♂) transformiert; auf diese Weise entsteht die „Container-Contained“-Beziehung, ein erster Entwicklungsschritt zu einem Gedanken, der vom Denkenden gedacht wird. Diese Container-Contained-Beziehung (♀♂) ermöglicht eine emotionale Erfahrung, die durch eine spezifische Verknüpfung charakterisiert ist, nämlich entweder durch L

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